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von Alexander Lechner
Eiger Nordwand über die Heckmair Route: 2 Tage in der vertikalen Arena
TAG 1
Um eine angemessene Einleitung für dieses Abenteuer präsentieren zu können möchte ich zuerst den Autor und Alpinpublizisten Ulli Auffermann zitieren, der die Eiger Nordwand besser beschreibt, als ich es je könnte:
„Eiger-Nordwand. Dieser Begriff ist fester Bestandteil einer durchschnittlichen Allgemeinbildung. Sogar jeder Nicht-Bergsteiger kennt dieses Wort. Die meisten waren nie da und wissen oftmals nicht, wie sie aussieht. Dennoch ist die Eiger-Nordwand im Speicher der Gehirne verankert wie das Empire-State-Building, die Niagarafälle, die Pyramiden oder ähnliche Weltwunder".
In vielen Betrachtungen, Vergleichen, alpinen Schwierigkeitsbewertungen bemühen sich Bergsteiger und Alpinpublizisten seit der Erstbesteigung 1938, der Eiger-Nordwand ihren Nimbus, ja ihren Mythos zu nehmen, die schwierigste Kletterei im Leben eines Bergsteigers zu sein.
Im Himalaja werden Wände von ungleich gewaltigeren Ausmaßen durchstiegen. Modernes Sportklettern in Fels und Eis kann mit Schwierigkeiten aufwarten, die um etliche Grade höher liegen als die schwersten Kletterpassagen in der Eigerwand.
Wenn auch der Status Quo der Eigerwand damit auf ein Maß zurückgeschraubt ist - durchaus realistischer als die maßlosen Übertreibungen, die das "N" als Anfangsbuchstaben für Nordwand gerne mit dem "M" für Mordwand vertauschen - diese Eiger-Nordwand ist und bleibt in ihrer gesamten bergsteigerischen Herausforderung ein Markstein für Allroundalpinisten und eine Art Elite-Zertifikat für all jene, die sie erfolgreich durchstiegen.
Viele, zu viele mussten aus dieser Wand geborgen werden oder ließen ihr Leben. Oft auch, weil sie sich um jeden Preis mit der Aura des Eiger-Nordwand-Bezwingers umgeben wollten, obwohl leider ihr bergsteigerisches Potential häufig nicht ausreichte.
Lässt sich ein großer Teil der Tragik der Besteigungschronologie dem Leichtsinn und der Unerfahrenheit vieler Nordwand-Aspiranten zuordnen, über eines kann und sollte das alles nicht hinwegtäuschen: Diese Wand mit ihren fast 2000 Metern Höhe ist in der Einzigartigkeit ihrer Anforderungen einfach sehr schwer und überaus gefährlich!
Die klassische Heckmair-Route ist enorm lang, die Felsqualität ist schlecht, nicht selten mit einer Eisglasur überzogen. Es gibt ausgedehnte, schwierige Eispassagen, immense Gefahr durch Steinschlag und Lawinen und überraschende, heftige Wetterstürze! So kann diese Kletterei jederzeit auch für die Besten zu einer Bergtour an der Grenze werden.“
Seit März 2011 häufen sich die Berichte über erfolgreiche Durchstiege der Heckmair Route durch die Eiger Nordwand. Meist waren diese jedoch von unterschiedlicher Qualität. Man liest von neuen Geschwindigkeitsrekorden (ca. 4 Stunden in der Zweierseilschaft!), aber auch von kalten Biwaks, Temperaturen bis -20 Grad und erfrorenen Fingern und Zehen.
Mit Interesse verfolge ich die Berichte im Internet und als mich Gerald Ende März schließlich fragt, ob ich die Heckmair machen möchte, bin ich natürlich nicht mehr zu halten.
Ein Zeitrahmen für den Durchstieg ist schnell gefunden, um Ostern bekommen wir beide einige Tage Urlaub und wir erhoffen uns in diesem Zeitraum gute Verhältnisse. Drei Wochen lang beobachte ich die Wand fast jeden Tag durch die Webcam. Ich jogge, fahre Rad und klettere soviel wie möglich, ich trainiere 6 Tage in der Woche. Wir checken unsere Ausrüstung durch und kaufen noch ein paar Dinge dazu, die uns auf einer derart langen Tour nützlich erscheinen.
Das ungewöhnlich schöne und beständige Wetter im April nutze ich hauptsächlich zum Sportklettern und mir gelingen einige Projekte. In meinen Gedanken begleitet mich in dieser Zeit eine Mischung aus freudiger Erwartung und Furcht. Ich freue mich auf eine großartige, zweitägige Klettertour, habe aber dennoch Angst.
Sind wir den technischen Anforderungen gewachsen? Wie werden die Verhältnisse in der Wand sein? Wird die Nullgrad-Grenze auf über 3000 Meter steigen und in der Folge der berüchtigte Steinschlag einsetzen? Wird das Wetter halten?
Die Tatsache, dass ich lediglich auf 2 Jahre Klettererfahrung und eine schlechte Eisklettersaison 2010/2011 zurückblicken kann, nährt meine Zweifel noch.
Kurz vor dem Osterwochenende scheint sich auch das Wetter noch gegen uns zu wenden: Die Wetterdienste melden einen beständigen Karfreitag, Samstag und Sonntag jedoch Quellwolkenbildung und teilweise Schauer. Keine guten Aussichten also für eine Wand, die für ihre Wetterstürze bekannt ist.
Dennoch fahren wir am Donnerstag, den 21.04. in die Schweiz. Von Lauterbrunnen geht es mit der Jungfraubahn auf die kleine Scheidegg. Wir verpassen die letzte Bahn zur Station Eigergletscher, wo wir schlafen wollen, um am Freitag am schnellstmöglichen Weg zum Einstieg der Route zu gelangen.
Macht nix, dann eben noch eine Stunde zu Fuß rauf! Verschwitzt kommen wir mit unseren 15kg Rucksäcken in der Abenddämmerung bei der Bahnstation an.
Im Hotel neben der Bahnstation beziehen wir Quartier und bekommen ein kleines Zweibettzimmer zugewiesen. Wir treffen noch zwei andere Seilschaften, die ebenfalls morgen in die Heckmiar Route einsteigen wollen. Zwei Slowaken und zwei Deutsche, scheinen alles gute Bergsteiger zu sein. Wir trinken zusammen noch ein Bier, unterhalten uns über die Route und erzählen uns von anderen Touren, die wir bereits unternommen haben.' Zwischen 22:00 und 23:00 Uhr versinke ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich um 02:30 wieder erwache. Kurz nach mir ist Gerald wach, wir essen und trinken noch was, hinterlegen am Gang noch ein wenig Ausrüstung, die wir aus Gewichtsgründen zurücklassen.
Die schweren Bergschuhe werden geschnürt und die am Vortag bereits gepackten Rucksäcke aufgenommen. Trotz allen Bemühungen zur Gewichtsoptimierung wiegt jeder unserer beiden Rucksäcke wohl um die 12 kg. Gewicht, das uns in den senkrechten und überhängenden Felspassagen gnadenlos nach unten ziehen wird. Lediglich die Stirnlampen auf unseren Helmen durchbrechen die Dunkelheit der sternenklaren Nacht, als wir einer festgetretenen Spur über 30 - 35 Grad steile Schneefelder unter der Wand zum Einstieg folgen.
Die ersten vier- bis fünfhundert Meter geht es dann gleich mal größtenteils seilfrei hinauf, bis zu einem Quergang unterhalb der ersten schwierigen Felslänge, dem sogenannten „Schwierigen Riss“. Dort ist dann erst mal warten angesagt, wir treffen auf zwei Seilschaften, die bereits vor uns eingestiegen sind. So wie man in den leichten Eisseillängen der Eigerwand bei guten Verhältnissen schnell vorankommt (wir hatten festen, styroporartigen Schnee, sehr gut zu klettern), kann man in den schwierigen Seillängen sehr viel Zeit verlieren. Der glatte Fels und die schlechte Absicherung desselbigen verlangen vom Vorsteiger einen überlegten und sicheren Kletterstil.
Schließlich sind wir an der Reihe und Gerald, der bessere Kletterer von uns beiden, durchklettert die teils senkrechte, teils überhängende Felspassage am scharfen Ende des Seils. Zehn Minuten benötigt Gerald für den ca. 30 Meter langen Riss, bis er schließlich „Stand“ ruft. Ich hänge seine Sicherung aus, Gerald zeiht das restliche Seil ein und ich klettere, von oben gesichert in den Riss. Gleich zu beginn wird er durch ein kleines Felsdach unterbrochen, danach verläuft er durch eine geneigte, völlig glatte Verschneidung.
Haltlos kratzen meine Steigeisen über den völlig glatten Fels. Mit den Händen nach Griffen zu suchen, habe ich bereits aufgegeben. Stattdessen verklemme ich die Hauen meiner Eisgeräte im Riss und ziehe mich an ihnen hoch. Der Nachteil in dieser Klettertechnik besteht allerdings darin, dass man sich nicht immer sicher sein kann, ob die Hauen der Geräte auf den kleinen Unebenheiten am Fels halten.
Ich blockiere mit der linken Hand, setze die Haue meines rechten Eisgerätes auf einer kleinen Felskante auf und steige etwas höher, um den nächsten Griff zu erreichen. Plötzlich rutscht die Haue von der Felskante und ich falle. Zum Glück wird mein Sturz bereits nach einem halben Meter vom Seil gestoppt. Ein kurzer Fluch und ich schon klettere ich wieder, gehe die Stelle noch einmal an, platziere die Haue diesmal an einer anderen Stelle, wo sie auch hält. Ein paar Minuten später bin ich auch schon bei Gerald am Stand. Die erste schwierige Felsseillänge dieser Riesenwand liegt somit hinter uns.
Die nächste Seillänge steige ich bis zum Stand unter dem Hinterstoisser - Quergang vor. Ein schwarzes Fixseil führt von dort aus über völlig glatte Felsplatten und einen anschließenden steilen Kamin zum ersten Eisfeld. Wir hängen uns mit dem vollen Körpergewicht in das Fixseil, welches an einer Stelle, vermutlich durch Steinschlag, bereits stark beschädigt ist und hangeln uns über die 20 Meter breite Plattentraverse.
Im ersten Eisfeld erwartet uns endlich wieder leichtes Gelände. Wo die Wand früher vergletschert war, erwartet uns nun fester Schnee. Die Neigung übersteigt selten 50 Grad und wir kommen schnell bis zur Wandstufe zwischen ersten und zweiten Eisfeld, die über den sogenannten Eisschlauch überwunden wird. Im Eisschlauch finden wir gefrorenes Wassereis in der Schwierigkeit WI3 vor. Für uns eigentlich kein Problem, leider ist das Eis bereits ziemlich spröde und dünn, lässt sich mit Eisschrauben nicht mehr absichern. Also erst mal hoffen, dass alles hält und ohne Zwischensicherungen steigen wir die 40 Meter zum zweiten Eisfeld empor.
Dort erwarten uns ähnliche Bedingungen wie im ersten Eisfeld und wir gewinnen schnell an Höhe. Dennoch ist das zweite Eisfeld ziemlich lang und so ist es bereits früher Nachmittag, als wir am sogenannten Bügeleisen, einer senkrechten Wandstufe vorm Todesbiwak ankommen.
Hier erwarten uns wieder zwei schwierige Seillängen, sowie drei andere Seilschaften. Vor den schweren Längen staut sich eben alles ein wenig auf. „Ist halt so“ sagen wir uns und warten gezwungenermaßen, bis wir an der Reihe sind.
Schließlich ist es ca. 15:00, als wir am Todesbiwak ankommen, kurz ein paar Riegel essen und etwas trinken. Aus Berichten wissen wir, dass dies angeblich der beste Biwakplatz in der ganzen Wand ist. Allerdings wollen wir das Tageslicht noch zum Klettern nutzen, um heute noch so hoch wie möglich kommen. So entschließen wir uns weiter zu klettern und hoffen darauf, weiter oben noch einen guten Biwakplatz zu finden.
Vom Todesbiwak steigen wir erst mal einige Meter ins dritte Eisfeld ab. Dieses queren wir der Länge nach bis zu einer mit Schnee und Eis durchsetzten Felsrampe. Diese beginnt erst flach, steilt sich aber schnell auf. Im oberen Teil wird die kombinierte Eis und Felskletterei immer anspruchsvoller. Es gelingt uns nur selten, zusätzlich zu den wenigen alten, geschlagenen Haken noch Sicherungen unterzubringen und wir müssen immer wieder Runouts mit zehn bis zwanzig Metern hinnehmen.
Nach und nach spüren wir den anstrengenden Tag. Die Muskeln in den Unterschenkeln brennen vom langen Stehen auf den Frontalzacken der Steigeisen und unsere Konzentration lässt langsam nach. Um 18:00 erreichen wir schließlich das sogenannte Spanierbiwak, an dem bereits 2 Liegeplätze aus dem Eis geschlagen sind. Ein perfekter Platz für die Nacht!
‚Wir erweitern die Liegeflächen noch etwas, spannen das Kletterseil, an dem wir uns sichern, breiten die Isomatten aus, holen den Gaskocher aus meinem Rucksack und Gerald beginnt mit dem Schneeschmelzen. Als schließlich die Abendsonne in die Nordwand scheint wird es richtig gemütlich. Die Temperatur steigt, wir bekommen sogar leichte Plusgrade.
Einige Seilschaften klettern noch an uns vorbei, egoistisch machen wir uns auf unserem Biwakplatz breit. Wir wollen ihn nicht teilen, sonst müssten wir die Nacht im Sitzen verbringen!
Beim Löffeln der Suppe können wir dann noch die anderen 50 Meter über uns im Wasserfallkamin beobachten - sie brauchen lange, es sieht ziemlich heikel aus.
Nach zwei weiteren Suppen und ein paar schlucken Tee verschwindet die Sonne im Westen hinter einem Gebirgskamm und wir bereiten uns auf die wohl ausgesetzteste Nacht in unserem Leben vor. Unsere Köpfe befinden sich unter einer überhängenden Felswand und zu unseren Füssen fällt die Wand gute 1200 Meter senkrecht ab. Der Ausblick ist wirklich atemberaubend!
Schnell wird es wieder kalt, wir stopfen alles, was wir am nächsten Tag wieder benötigen in die Daunenschlafsäcke, da es sonst gefrieren würde: Schuhe, Handschuhe, Trinkflasche.
Danach schlüpfen wir selbst noch voll angezogen und mit Klettergurt hinein. Während es dunkel wird, macht sich bei mir im Schlafsack wohlige Wärme breit.
Dennoch verläuft die Nacht nicht ohne Pannen: kurz vorm Einschlafen drehe ich mich auf die Seite, meine Isomatte rutscht etwas ab, ich rutsche nach und ehe ich realisieren kann, was passiert ist, hänge ich einen Meter weiter unten im Seil. Nach einer kurzen Schrecksekunde bemerke ich, dass meine Isomatte weg ist. Mist!
Ich versuche ohne Matte zu schlafen. Durch die Kälte, die vom Eis ausgeht wird es jedoch schnell ungemütlich. Also noch mal raus aus dem Schlafsack, Schuhe anziehen, Stirnlampe aufsetzen und erst mal die Matte suchen. Schließlich entdecke ich sie fünf Meter unter uns in der Rampe, sie ist in einem Kamin hängengeblieben. Puh, noch mal Glück gehabt. Gerald lässt mich runter, ich erwische die Matte, klemme sie mir unter den Arm und klettere wieder nach oben.
Obwohl ich schon hundemüde bin, schnappe ich mir ein Eisgerät und hacke mir noch eine Mulde in das Eis meiner kleinen Liegefläche. In der Hoffnung, dass sich mein Sturz nicht wiederholt, steige ich wieder in den Schlafsack und schlafe kurz darauf ein.
TAG 2
Als ich aufwache ist es bereits hell und Gerald ist schon am Kochen. Ich lasse mich etwas gehen, gönne mir noch zehn Minuten im warmen Schlafsack. Gezwungenermaßen stehe ich schließlich doch auf, esse und trinke kurz etwas. Ein Blick nach unten, in das dritte Eisfeld, zeigt uns, dass ein rascher Aufbruch angesagt ist, da sich die nächste Seilschaft bereits nähert. Sehr viel Tee können wir nicht mehr kochen, lediglich ein Liter geht sich aus. Naja, wird schon reichen.
Wir machen uns zum Aufbruch bereit: Steigeisen anlegen, Helm aufsetzten, Geländerseil abbauen, Schlafsäcke in die Kompressionssäcke stopfen, Klettermaterial auf die Gurte hängen, Matten einrollen. Kurz darauf klettern wir über steiles Mixedgelände weiter zum Wasserfallkamin. Bereits vor dem Kamin erwartet uns eine kurze, aber knackige Seillänge über eine glatte Verschneidung, in der keine Haken stecken.
Ein typisches Eiger-Runout, welches Gerald, wie immer elegant im Vorstieg meistert. In der Zwischenzeit hat eine andere Seilschaft zu uns aufgeschlossen. Es sind die beiden Deutschen, die wir bereits im Hotel Eigergletscher getroffen haben. Sie haben jedoch größere Probleme in der Verschneidung und ich lasse ihnen ein Seil hinab, an dem sich einer über die Verschneidung heraufziehen kann.
Währenddessen steigt Gerald bereits die nächste Seillänge vor. Der Wasserfallkamin wartet erst mit steiler, überhängender Felskletterei auf und bevor sich das Gelände wieder kurz in die horizontale zurücklehnt, bedeckt eine dünne Eisschicht sämtliche Griffe. Also im überhängenden Gelände, während einen der schwere Rucksack nach unten zieht, heißt es sich mit einer Hand am Fels festhalten, mit der anderen das Eisgerät vom Klettergurt nehmen und über dem Überhang ins Eis schlagen. Danach kann man nur hoffen, dass das Teil auch hält und zieht sich drüber. Um die Griffe besser zu spüren und halten zu können, klettern wir ohne Handschuhe - auch im Eis. Am Stand nach dem Kamin sind meine Hände bereits so kalt, dass jegliches Gefühl aus den Fingern gewichen ist. Also schnell die Handschuhe wieder anziehen!
Wie schwierig und anstrengend diese Seillänge wirklich ist, zeigt sich, als wir diese bereits hinter uns haben: Der Vorsteiger der deutschen Zweierseilschaft legt einen Viermetersturz hin, als sein Eisgerät ausbricht und ihm ins Gesicht schnellt.
Ich rufe kurz zum Gestürzten hinunter und er gibt mir zu verstehen, dass ihm nichts passiert ist. Lediglich eine Prellung am Knie hat er davongetragen. Die alten Haken haben zum Glück gehalten.
Gerald hat von alledem nichts mitbekommen, er steigt bereits die nächste Seillänge vor, die er unangenehm über eine Platte umgehen muss, da die ursprüngliche Linie von einem gewaltigen Schneepilz verstopft ist. Schließlich kommen wir wieder auf ein kurzes Eisfeld, welches uns zum brüchigen Band und schließlich weiter zum brüchigen Riss leitet.
Während der Riss relativ festen, senkrechten Fels bietet, hat des brüchige Band seinen Namen wirklich verdient:
Der Fels zerfällt einem fast unter den Händen und obwohl ich vorsichtig klettere, trete ich einige Steine los, die wie Wurfgeschosse auf das darunterliegende Eisfeld prallen, auf dem sich Gerald und die nachfolgende Seilschaft noch befinden.
Nach dem brüchigen Riss folgt der Götterquergang, eine unglaublich ausgesetzte und geniale Traverse, die Genusskletterei im dritten Schwierigkeitsgrad und einen berauschenden Tiefblick auf die Almwiesen der kleinen Scheidegg bietet, die nun bereits 1600 Meter unter uns liegen.
Am Ende des Quergangs befindet sich der Anfang der weißen Spinne, jenes berüchtigten Eisfeldes, in dem sich Steine, Eisbrocken und Lawinen aus der brüchigen Gipfelwand wie in einem Trichter sammeln.
Hier wären die Erstbegeher beinahe von einer Lawine aus der Wand gefegt worden und auch wir kommen durch starken Steinschlag in Bedrängnis. Surrend pfeifen die Felsbrocken an uns vorbei. Hier heißt es nur: „Kopf einziehen und durch“!
Obwohl ich die Höhe bereits spüre und schon ziemlich erschöpft bin, laufe ich dank dem Adrenalinschub, den der anhaltende Steinschlag bei mir auslöst, das Eisfeld förmlich hinauf.
Auf Zwischensicherung verzichte ich zugunsten der Schnelligkeit.
Nach der Spinne zieht sich alles ein wenig: das Mixedgelände wird immer wieder von steilen Felspassagen unterbrochen und ich fühle mich nicht mehr fit. Immer wieder plagen mich kurze Schwindelanfälle, vermutlich aufgrund der Höhe und des Flüssigkeitsmangels. Es ist bereits später Nachmittag und wir haben, seit wir unser Biwak verließen, beide etwa einen halben Liter getrunken. Unsere Zeit reicht jedoch nicht, um neuen Schnee zu schmelzen, es wird ohnehin knapp, wenn wir es heute noch aus der Wand schaffen wollen. Zum Glück ist Gerald noch frisch und führt praktisch alle Seillängen.
Das Wetter wendet sich gegen uns: es zieht zu, Wolken hängen in der Wand, die Sicht verringert sich auf wenige Meter. Schließlich beginnt es zu schneien.
Es ist bereits Abend, als wir die berüchtigten Ausstiegsrisse erreichen. Zwei Seillängen im schwarzen, geschlossenen, abwärts geschichteten Eigerfels, der praktisch nicht absicherbar, heikel zu klettern und teilweise mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist.
Perfekt also, um einem das Fürchten zu lehren. Zügig und sicher wie immer meistert Gerald auch diese beiden Seillängen im Vorstieg. Ich kann seinen Kletterstil wirklich nur bewundern! Als wir die Ausstiegsrisse hinter uns haben, reißt die Wolkendecke wieder auf und gibt den Blick auf die Gipfelwand frei, die sich noch höher aufstellt, als wir erwartet hatten.
Um Zeit zu sparen verzichten wir aufs Standplatzsichern und klettern gleichzeitig am langen Seil durch ein Couloir.
Am Beginn des Gipfeleisfeldes können wir den zweiten Sonnenuntergang aus der Wand beobachten und als wir den Mittelegigrat erreichen, senkt sich bereits die Dunkelheit über die Eisgipfel des Berner Oberlandes.
Schlagartig wird es kalt, mein Rucksack wird steif, als die Feuchtigkeit auf ihm gefriert.
Schnell setzen wir uns die Stirnlampen auf und steigen über den schmalen und teilweise überwechteten Grat Richtung Gipfel. Oft ist der Grat so schmal, dass man gerade mal zwei Füße nebeneinander setzen kann. Um ca. 10:00 stehen wir auf dem Gipfel des Eigers. Kurz setzen wir uns in den Schnee und schießen ein Gipfelfoto. Um länger zu verweilen ist es zu kalt.
Der Abstieg verlangt mir noch einmal alles ab. Fast sechs Stunden benötigen wir für den Abstieg über die Westflanke. Noch einmal erwarten uns 1900 Höhenmeter Schnee und Eis.
Gerald geht meist voraus, immer wieder machen wir Pausen. Ich bin am Ende meiner Kräfte, dehydriert, muss mich immer wieder hinsetzen. Hin und wieder nicke ich im Sitzen ein, wache nach ein paar Minuten verstört wieder auf, weiß nicht mehr wo ich eigentlich bin, muss wieder zu mir selbst zurückfinden.
Schier endlos zieht sich der Abstieg, die Lichter im Tal wollen einfach nicht näherkommen. Zwischen 03:00 und 04:00 erreichen wir schließlich unseren Ausgangspunkt, an dem wir vor drei Tagen gestartet sind: die Station Eigergletscher. Nun hat kein Hotel mehr offen, alles ist dunkel und still.
Am Bahnsteig steht ein Automat für Getränke und Schokolade. Wir kaufen ein Bier, öffnen es. Das Bier fährt aus, ich bringe nur wenige Schlucke hinunter, Gerald trinkt es aus. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht gleich am Bahnsteig einzuschlafen.
Wir suchen uns ein etwas abgelegenes Plätzchen, um nicht von den Touristen geweckt zu werden, die in ein paar Stunden wieder den Bahnhof bevölkern werden, breiten unsere Matten und Schlafsäcke aus. Ich hole mir noch Wasser, trinke in wenigen Zügen zwei Liter. Gerald isst noch etwas, mir fehlt die Kraft dazu.
Ich lege mich in meinen Schlafsack und bin einfach nur glücklich. Wir haben es geschafft, rauf und wieder runter, wir sind in Sicherheit. In diesem Moment möchte ich nichts in der Welt gegen das klare Leitungswasser in meiner Trinkflasche und meinen kleinen, ebenen Liegeplatz unter dem Himmelszelt tauschen. Schließlich übermannt mich ein tiefer, traumloser Schlaf.