Tyskyewic (die Unaussprechliche) 6b+ (7+)

von Walter Bajc

Manch einer kennt das Gefühl, wie es ist, der großen Liebe gegenüberzustehen. So nah und doch gleichzeitig so endlos fern. Man(n) möchte gerne Hand anlegen und traut sich dennoch nicht den entscheidenden Schritt zu tun. Dem einen passiert dies bei den zwischenmenschlichen Beziehungen, dem anderen in Bezug auf eine Klettertour.
 

Weihnachten 1982 fuhr ich zum ersten Mal an den Gardasee um zu klettern. Damals begann das Sportklettern gerade erst Fuß zu fassen, man hörte von einem Ort namens Arco und vom herrlichen, festen, rauen Gestein im Sarcatal. Vom Campingplatz aus betrachteten wir stundenlang die beeindruckende Ostwand des Colodri und verglichen sie mit den Anstiegsskizzen und Schwierigkeitsbewertungen im Führer. Eine Route im linken Wandteil fiel mir dabei sofort ins Auge – die unaussprechliche Tyskyewic. Nach genauem Studium kamen wir zum Entschluss: Steil, steiler, für uns nicht machbar!
 

Viele Jahre sind seither vergangen. Oft, sehr oft sogar, saßen wir unter der Colodriwand. Einige der Routen sind wir mittlerweile geklettert, nur eine schien in immer weitere Ferne zu rücken.
 

Ostern 2006. Das Wetter ist für Gardaseeverhältnisse ungewöhnlich kühl und regnerisch. Die Kletterer hängen nicht in den Felsen sondern in den Cafes herum. Zufällig treffen wir einen Bekannten aus Vöcklabruck, ebenso zufällig kommt das Gespräch auf meine Traumtour und fast beiläufig fällt der Satz: Die Route trocknet schnell auf, wenn`s bis Mittag aufhört zu regnen, steigen wir um Eins ein.
 

Gesagt, getan. Die ersten beiden Seillängen eignen sich hervorragend zum Warmklettern. Noch nicht all zu schwer (5-) aber doch so, dass man konzentriert zu Sache gehen muss. Stellenweise ist der Fels noch feucht und die Reibung der Schuhsohlen lässt zu wünschen übrig. Der Standplatz befindet sich in einer kleinen Höhle. Hierher hat sich vor mehreren hundert Jahren ein Eremit zurückgezogen und insgeheim bewundere ich dessen Kletterfähigkeiten.
 

Ein überhängender Riss im oberen 5. Schwierigkeitsgrad weist den Weg weiter. Erst mehrere Meter weiter oben steckt ein einzelner, geschlagener Haken. Zwar könnte man den Riss sehr gut selbst absichern, aber die Betonung liegt auf „könnte“, da wir im Eifer des Gefechts weder Keile noch Friends mitgenommen haben. So bleibt eben nicht anderes über, als ein längeres „runout“ in Kauf zu nehmen.
 

Norbert steigt so schnell nach, dass ich kaum mit dem sichern nachkomme. Ist auch klar. Wenn jemand im 8.-9. Grad klettert fällt das Gelände bisher bestenfalls unter extremwandern. Vor uns liegt die Schlüssellstelle und ich bin froh, dass die Länge an Norbert fällt. Gelber bis dunkelbrauner, überhängender, kompakter, griffarmer aber bombenfester Kalk. Die Griffe und Tritte sind großteils nach unten geschichtet und mit Magnesiumspuren unserer Vorgänger markiert. Gott sei Dank, denn von selber wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, solche Mikrogriffe zu benutzen, ich hätte sie schlicht und einfach übersehen. Für Norbert stellt die Stelle kein allzu großes Problem dar.


In einwandfreiem Stil steigt er zügig nach oben und wenig später höre ich bereits das Standkommando. Natürlich erwacht in dem Moment der Ergeiz und ich will es im nachmachen. Zuerst leicht ansteigend nach links – ok. 2m gerade hinauf – geschafft. Wieder Querung nach links. Das Griff- und Trittpuzzle scheint sich langsam aufzulösen. Freude kommt auf, nur mehr ein, zwei Meter bis in „leichteres Gelände“. Ein letzter schwieriger Zug und – ich hänge im Seil. Schlagartig haben sich beide Unterarme verkrampft. Mit total übersäuerten Muskeln pendle ich unterm Überhang. Irgendwie komme ich wieder an den Felsen, habe aber nicht mehr die Kraft zu einer freien Begehung. Zwei Haken müssen als Griffe herhalten – sch.......ade.
 

Sicherheitshalber führt Norbert auch die nächste Länge. Diese ist zwar nur mehr 6+, aber meinen ausgepumpten Unterarmen kommt eine Erholung mehr als gelegen. Zuerst wieder mehrere Meter Quergang , diesmal nach rechts, zu einem engen Spalt und hinaus auf die Kante. Der anschließende, 15m lange Riss drängt stark nach außen. Gute Griffe und Tritte sind spärlich, daher sind Hand- und Fußklemmer angesagt. Erleichtert komme ich in gangbareres Gelände und wenig später zum Stand.
 

Die folgende Länge gehört wieder mir. In abwechslungsreicher Kletterei über Platten, Risse und Verschneidungen steige ich höher. Von unten hat es nicht besonders schwer ausgesehen. Doch wie so oft liegt das Problem im Detail. Immer wieder müssen Stellen im 6. Grad bewältigt werden.
 

Eine letzte schwere Länge trennt uns noch vom Ausstieg. Fast griff- und trittlos ist eine Platte zu überlisten. Die wenigen Stellen zum Halten sind von den zahlreichen Begehungen glattpoliert und zu allem Überdruss sickert noch Wasser aus den Spalten. Noch einmal heißt es volle Konzentration, dann ist der Berg zu Ende, wir stehen am flachen Gipfelplateau.
 

Tourenbucheintragung vom 11.4.2006

Colodri Ostwand, Tyskyewic
Partner: Norbert Reizelsdorfer
Schwierigkeit: 6b+ (= 7+) bzw. 6a+A0
7 Seillängen, Zeit 2h15 (Normalzeit 3-4 Stunden)
 

Eine lange Liebesbeziehung ist damit zu Ende gegangen. So wie manch einer sein Glück in einer neuen zwischenmenschlichen Beziehung findet, finden es andere in einer neuen Herausforderung am Berg. Ich brauchte nicht lange zu suchen, ich habe meine neue Liebe bereits gefunden.