von Walter Bajc
Endlich! Endlich steigen Anton und ich zur kleinen, gemütlichen Sasc Furä Hütte im Bergell auf. Während des Aufstieges ist unser Ziel immer von Hügeln, Gratkanten oder Bäumen verdeckt aber in unseren Köpfen haben wir das Bild immer vor unserem geistigen Auge – Badile Nordostwand Cassinführe. Eine der sechs ganz großen, klassischen Nordwandrouten, 1937 das erste Mal durchstiegen. Cassin und Gefährten benötigten damals drei Tage, teilweise im Gewitter und Schneesturm, der dramatische Abstieg endete mit dem Tod zweier Freunde. Seither ist der Mythos ungebrochen.
Seit vielen Jahren geisterte der Wunsch diese Wand zu durchsteigen in meinem Kopf herum, seit ich vor einigen Jahren die Nordkante kletterte und immer wieder Seilschaften in der Cassin beobachten konnte wurde dieser Wunsch fast unbändig.
Endlich! Es ist 4Uhr30 am Morgen. Im Schein unserer Stirnlampen steigen wir den schmalen Pfad Richtung Nordkante an, knapp 2 Stunden später sitzen wir in einer kleinen Scharte und bereiten uns auf die Kletterei vor. Insgesamt 7 Seilschaften und 1 Alleingänger (der uns noch manche Unannehmlichkeit und Sorgen bereiten wird) sind in der Wand. Einige haben unterhalb des Einstieges biwakiert und sind so bereits vor uns. Wir wollen aber weder Stress noch einen Wettlauf veranstalten und gehen das Unternehmen daher ruhig an.
Der Originaleinstieg wird heutzutage nicht mehr begangen, statt dessen klettert man einige Meter auf ein Band unterhalb des Kanteneinstieges ab und quert bis zum Beginn der Schwierigkeiten. Eine 3-er Länge führt zur Rebuffat- Verschneidung, der ersten schwereren Stelle. Noch habe ich mich noch nicht so richtig an den ungewohnten Granit angepasst, aber schön langsam beginnt es zu „laufen“. Einige Seillängen spulen wir so locker herunter doch dann – Stau! An der ersten 6- Stelle laufen wir auf die anderen Seilschaften auf. Fast eine ganze Stunde warten wir, bis Anton endlich diese Seillänge beginnen kann. An kleinen Untergriffen, oftmals nur auf Reibung oder winzigen Tritten stehend, schleicht er souverän die Platten hinauf. Da kaum Haken vorhanden sind muss er mit Keilen und vor allem Friends selbst für eine entsprechende Sicherung sorgen. Ebenso im folgenden Abschnitt der an mich fällt.
Immer noch mit 5c bewertet steckt auf 50m gerade einmal ein Haken, daher ist auch hier Eigeninitiative angesagt. Über Platten, Risse und Verschneidungen geht’s nun etwas leichter (nur mehr max. 5/5+) mehrere Seillängen hinauf zum großen Band, das etwa die Mitte der Wand markiert. Neun Längen haben wir bereits hinter uns gebracht und liegen noch ganz gut in der Zeit, aber O‘ Schreck schon wieder Stau.
Vor uns liegt nicht nur die Schlüsselstelle sondern auch noch eine belgische und eine französische Seilschaft, davor mühen sich zwei Italiener ab, dazwischen Guiseppe der italienische Alleingeher der sich selbst sichert und daher die Kletterstellen mehrfach auf, ab und wieder auf klettern muss. Auf eine Schilderung des Disputes zwischen ihm und den anderen Italos verzichte ich an dieser Stelle vorsorglich, da diesen Bericht auch Jugendliche lesen könnten. Des Weiteren können wir beobachten wie in der folgenden Länge ein Engländer einen unfreiwilligen Pendelquergang unternimmt und sich minutenlang damit abmüht wieder auf den rechten Pfad der Tugend zurückzukommen.
Wir warten, warten, jausnen, warten, ziehen uns warm an, warten, warten - irgendwann geht es endlich weiter.
Ich habe Glück. Anton ist an der Reihe und muss/ darf diese Schlüssellänge vorsteigen. Doch auch hintennach fordert es einem einiges ab. Winzige teils nach unten geschichtete Griffe gepaart mit fiesen Reibungstritten bringen einen ganz gehörig ins Schwitzen. Die Stelle wird nicht umsonst mit 6a (6+) bewertet. An sich eine Schwierigkeit die wir beide locker drauf haben, aber durch unsere schweren Rucksäcke gehandicapt will jeder Schritt genau überlegt sein, zumal auch hier die Absicherung zu wünschen übrig lässt. Dafür geht’s anschließend mit 5+/6- vergleichsweise human weiter und man glaubt es kaum – es stecken sogar Haken sodass man die Kletterei durchaus als vergnüglich bezeichnen kann. Ober uns wölbt sich jetzt ein breites Dach aus der Wand.
Die Verschneidung unterhalb sieht leichter aus als sie im Endeffekt ist, ist aber doch gut ausspreizbar. Das Dach selbst wird mittels Untergriffen umgangen was an sich schon schwer genug ist (5c, 6) aber zum Überfluss hängt gerade hier wieder Freund Guiseppe im Weg. An dem Kerl ist einfach kein vorbeikommen. An den kniffligen Stellen hält er uns permanent auf, kaum wird es leichter ist er natürlich schneller als wir in Seilschaft und geht wieder vorbei. Drei leichtere Längen (5-) gönnen uns etwas Erholung bevor es noch einmal richtig zur Sache geht. Der „Wuzelkamin“ erwartet uns. Wieder stecken wir hinter den anderen Seilschaften fest. Der Standplatz ist blockiert und so richte ich mich zwei Meter unterhalb mehr schlecht als recht häuslich ein. Während ich mit links auf einem kleinen Tritt gerade noch stehen kann stützt der Rechte nur mehr in die glatte Wand auf Reibung. Die Zeit läuft dahin, oben bewegt sich wenig bis gar nichts weiter, so habe ich viel Zeit um an Herman Buhl zu denken, dem die erste Alleinbegehung gelang und diesen Kamin wie folgt beschreibt. Zitat H. Buhl: „In derartigen Kaminen, die absolut nicht gefährlich sind, da man sich wie ein Keil darin verklammern kann, hört aber jede Technik auf. Es ist nichts anderes als eine wüste Schinderei“. Dem habe ich nichts hinzuzufügen!
Der Kamin erweitert sich wieder, wird zu einer Art Wandkletterei mit Seitenwänden, mit Rissen und Griffen, gut zu Klettern und Abzusichern, wenn, ja wenn es die Tage vorher nicht geregnet hätte. So läuft nun nämlich einerseits das Wasser in Bächen über den Fels und andererseits uns schön langsam die Zeit davon. Noch sind es drei schöne, zum Teil auch anstrengende Seillängen bis zur Nordkante, dann liegt die Wand endlich hinter uns. Das restliche Stück entlang der Nordkante gehen wir im Schein der untergehenden Sonne, teils sichernd, teils am laufenden Seil.
Zu guter Letzt müssen wir noch unsere Stirnlampen auspacken um das letzte Stück zur Biwakschachtel zurückzulegen. In der kleinen Behausung, die wir uns mit den Belgiern und Franzosen teilen, lasse ich die Tour noch einmal Revue passieren. 800 Höhenmeter, 24 Seillängen, ca. 1100m Kletterstrecke, der Großteil davon selbst abzusichern, Schwierigkeit 6a (6+).
Müde, aber zufrieden, falle ich schnell in tiefen Schlaf.